Des Onuphrius versteinertes Antlitz

Eine fast vergessene Rigisage
aufgezeichnet von Josef Doppmann

Aus dem Büchlein «Die Tierschutzstelle im Felsentor», gestaltet von Damian Shepherd

Aus dem Büchlein «Die Tierschutzstelle im Felsentor», gestaltet von Damian Shepherd

Geht man vom Heiligkreuz über die gesprengte Fluh, so gelangt man zur Stöckalp und über die Sachslerbrücke zur Wirtschaft Felsentor. Hier eröffnet sich dem staunenden Betrachter ein eindrückliches und einmaliges Bild. Als natürliches Tor gewährt das von gigantischen Kräften zusammengefügte Felsgebilde dem Rigiwanderer Durchlass. Im sogenannten Hochstein, dem höchsten der ineinander verkeilten Riesenblöcke, erkennt man bis zum heutigen Tag das versteinerte Antlitz jenes Bruders Onuphrius, welcher – will man der Sage glauben – vor über 400 Jahren das Kapellglöcklein vom Heiligkreuz besorgte. Nachdenklich, mit seiner in die Stirn gezogenen Kapuze und dem wallenden, weit über die Brust fallenden Bart, neigt er sein Haupt zum Wanderer, welcher da staunend seines Weges geht. 

Der letzte Einsiedler am Rigiweg
Von ihm – so wurde vor hundert Jahren noch berichtet – übernahm Onuphrius Dahinden, der um 1800 die Klause beim Heiligkreuz bewohnte, seinen seltenen und in der Gegend des Vierwaldstättersees wenig gebräuchlichen Namen. Während er als letzter Eremit dem Kapelldienst am Rigiweg treu ergeben war, soll sich Bruder Onuphrius um die Mitte des 16. Jahrhunderts mehr als weiser Ratgeber für Mensch und Tier denn als Kirchendiener betätigt, und damit die Aufmerksamkeit und die Bewunderung der Weggiser Bevölkerung auf sich gelenkt haben. Wenn Nebel das stille Dorf am See verhüllte und eine milde Herbstsonne die Nagelfluhtürme beim Hochstein mit ihrem goldenen Licht überflutete, blieb es oft stumm um das Glöcklein auf Heiligkreuz. 

Er sprach mit dem Wild 
Bruder Onuphrius streifte durch die sonnenbeschienenen Bänder der Rigilehnen und sammelte Heilkräuter und Beeren. Während er sie auf durchwärmten Felsbänken trocknete, hielt er – so wussten die Älpler von Hohloch und Romiti zu berichten – leise Zwiesprache mit dem Wild. An kalten und schneereichen Wintertagen brachte er Heu in die seitlichen, durch die gigantischen Steinbrocken gebildeten Höhlen beim Felsentor. Oft hatte er in seinem langen Leben den Lauten der Wildtiere gelauscht und gelernt, ihre Sprache zu verstehen. Bruder Onuphrius warnte Reh und Fuchs vor der Flinte des Wilderers, und Dachs und Hase befolgten seinen Rat und fanden sicheren Unterschlupf. Bis heute soll es einer besonderen Geschicklichkeit und des allerfeinsten Spürsinns der Weggiser Jäger bedürfen, im Gebiete des Felsentor und Schwertwaldes oder aber auf den abfallenden Bändern des Weggiser Seebodens bis hinunter zum Ohrenfad ein Tier aufzuspüren oder gar zu erlegen. So ist es denn nicht verwunderlich, wenn das Heiligkreuzglöcklein seine Läutepflicht oft nur spärlich erfüllen konnte. Darob zürnten Bruder Onuphrius aber weder die Bauern vom Klausen- und Sentiberg oder vom Katzenschwanz, noch der Pfarrherr von Weggis. Der Landbevölkerung blieben gar manche Gewissensnöte erspart, wenn sie ihr Werkzeug nicht dreimal täglich zum Englischgruss-Gebet niederlegten, und der Dorfpfarrer schätzte den weisen brüderlichen Rat, den er jederzeit in der Klause zu Heiligkreuz oder auf der Sonnenterrasse um den Hochstein einholen durfte. Gerne erzählten Älpler und Bauersleute voriger Jahrhunderte über jene Zeit, in der man hoch über dem Vierwaldstättersee ohne Pillen und Spritzen ein langes und glückliches Leben führte. Wann immer diese Menschen ein Unwohlsein befiel oder eine Sorge sie drückte: Bruder Onuphrius wusste Rat, und seine Kräuter linderten allen Schmerz. Nach der Sage soll Bruder Onuphrius weit über hundert Jahre gelebt und seinen Kapelldienst auf Heiligkreuz an die achtzig Jahre versehen haben. 

Geheimnisvoller Tod
An einem goldenen Oktobertag hatte ihn der Älpler vom nahen Romiti, hoch über dem Nebel bei seinen geliebten Nagelfluhtürmen, ein letztes Mal lebend zu Gesichte bekommen. Um Mitternacht jenes Herbsttages flackerte in der Heiligkreuzkapelle ein Licht, und wie von unsichtbarer Geisterhand gezogen, sandte das Glöcklein seine hellen Klänge wehklagend über die schlafenden Berghöfe. Vergeblich klopfte am folgenden Morgen der Dorfpfarrer an die Kapuzinerklause, vergeblich suchte man den greisen Waldbruder in der wärmenden Herbstsonne beim Felsentor. Eine solche Stille lag über dem Rigiwald, dass selbst das sanfte Aufsetzen eines fallenden Buchenblattes zu vernehmen war. Das Rauschen des Wasserfalles beim wackligen Holzsteg unterhalb des Felsentors verstummte, Eichel- und Tannenhäher schwiegen. Jetzt wusste man auf den Rigihöhen, dass Onuphrius tot war. Seine hohe, aufrechte Gestalt war verglommen wie das warme Purpurlicht der untergehenden Sonne. Jetzt begann der Nebel zu steigen und verschluckte Kapelle und Bruderklause. Gespenstisch trieben seine grauen Schwaden den Flühen entlang, wo der schmale Rigisteig schon so manchem des Weges unkundigen Wanderer zum Verhängnis geworden war. Sie verschlangen den leuchtenden Beerenschmuck der Ebereschen und das fahle Gold des Buchenlaubes und quollen um die Felstürme beim Hochstein. Und der Nebel hüllte sie ein, die sie in stummer Trauer zusammenfanden und von Bruder Onuphrius Abschied nahmen. Tauperlen lösten sich aus dem feuchten Dunst und verschmolzen mit ihren Tränen.

Grauer Nebel und ein klagendes Kapellglöcklein
Während sieben aufeinanderfolgenden Tagen lag nun ein solcher Nebel zwischen dem oberen Sentiberg und der Wichmatt, wie man ihn seit Menschengedenken noch niemals gesehen hatte. Schwer lastete das kalte undurchdringliche Grau auf den Menschen, die jetzt ohnmächtig in ihren dürftigen Behausungen verharrten und sich mit dem Englischgruss die Not von der gepeinigten Seele beteten. Das Wild duckte sich im überhängenden Gesträuch und hungerte. Und wieder drang es unheimlich durch die bange Oktobernacht, das mitternächtliche Klagen des Kapellglöckleins vom Heiligkreuz. Nacht für Nacht, bis nach sieben bedrückenden Tagen und langen kummervollen Nächten der befreiende Morgen dämmerte. Eine verschwenderische Morgensonne überflutete die Rigihöhen und das kleine verträumte Dörfchen am See mit ihrem unendlichen Licht und hauchte neues Leben in die erstarrten Seelen. 

Das Gesicht erscheint im Felsentor
Das Erwachen unter dem tiefen Blau dieses Herbstmorgens war wie das Erklimmen eines Gipfels nach durchwanderter Nacht. Und jetzt war es da, des Onuphrius versteinertes Antlitz im sonnenbeschienenen Hochstein beim Felsentor. Die Kapuze in die Stirn gezogen, mit seinem wallenden Bart neigte er das greise Haupt jenen bescheidenen Menschen zu, deren Zufriedenheit er ungezählte Jahre geteilt hatte. Ehrfurchtsvoll staunend hingen die Augen am steinernen Bildnis dieses geliebten Bruders, der sie mit der untergehenden Sonne so wundersam verlassen hatte. Das Glöcklein zu Heiligkreuz schwieg, bis ein anderer Bruder den Kapelldienst besorgte und fortan dreimal täglich zum Englischgruss läutete. Kein Arzt konnte den Tod dieses seltsamen Kapuzinerbruders bescheinigen, kein Geistlicher seine Gebeine bestatten. So kommt es, dass sein Name in keinem Totenregister und in keinem Jahrzeitenbuch der Weggiser Pfarrgemeinde zu finden ist. Bis zum heutigen Tag aber grüsst Onuphrius’ versteinertes Antlitz den aufmerksamen Rigiwanderer vom Hochstein beim Felsentor, und nichts vermag bis heute die bedrückte Seele mehr zu befreien als das unendliche Licht eines Sonnenaufganges auf unserer Rigi.


Aus dem Weggiser Lesebuch «Cheschtene und Fiige», Kur- und Verkehrsverein 1993.